TReifenbreiten an Autos und die Größen der Kettenblätter an Fahrrädern haben eines gemeinsam: Sie sollen von der Kraft ihres Besitzers überzeugen. Ein Rechenfehler.
Die Vermutung, dass männliches Selbstbewusstsein häufig umgekehrt proportional zur Reifenbreite des Autos steht, liegt nahe, wenn sie auch wissenschaftlich nicht belastbar ist. Die Veröffentlichung vermeintlicher Potenz ohne geöffneten Hosengürtel, dafür im Einklang mit Sitte und Anstand ist tatsächlich jedoch nichts anderes als permanentes Balzverhalten, um Weibchen zu locken und andere Männchen, somit Konkurrenten, sich ungenügend fühlen zu lassen. Diese Sichtweise entspricht den Erkenntnissen der Humanethologie. Schaut her, mein Auto ist groß und stark. Also bin ich es auch. Wären wir Männer nicht alle gerne ein Auerhahn, dessen Testosteronwert beim heißen Flirt das Hundertfache seines Normalwerts erreicht?
Der Strahlkraft Nemesis ist bei Radsportlern die Durchschnittlichkeit im Format 50/34. Das sind die Größen der beiden vorderen Kettenblätter in Zähnen. Geringe Umfänge bedeuten weniger Kraftaufwand – aber auch geringere Geschwindigkeit bei gleicher Kurbelumdrehung. 50/34 fährt Jedermann. Profis wie die bei der Tour de France legen bei Zeitfahren Kettenblätter mit bis zu 55 Zähnen auf. Einer, der ein solch großes Ding auch tatsächlich bei Tempo 50plus durch die Ebene wuchten kann, ist Tony Martin. Das ist der Mann, dessen Schlüsselbein am Freitag auf der sechsten Etappe bei einem Sturz unter dem Gelben Trikot zerbarst.
Der Unterschied eines Kettenblatts vom 50er- zum 55er-Format ist deutlich sichtbar. Entsprechend rüsten aktuell immer mehr Hobby-Radler auf: Die Kombination 52/36 ist en vogue. Das reicht so dicht an professionelle Getriebeabstufungen heran, dass der Unterschied optisch kaum wahrzunehmen ist. Wie bei der Reifenbreite lautet auch hier die Botschaft: Ich hab’s drauf, meine Oberschenkel drücken das locker weg.
Mag sein, dass der Musculus quadriceps femoris stark ausgebildet ist, der linke Parietallappen ist es nicht: Wer das Rechenzentrum im Hirn bemüht, kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass bei der Variante 50/34 vorn in Kombination mit einem kleinsten Ritzel von 11 Zähnen am Hinterrad maximal 9,68 Meter pro Pedalumdrehung zurückgelegt werden. Dies entspricht bei 90 Umdrehungen pro Minute 52,3 km/h. Bei der Variante 52/36, die hinten meist mit einem Minimalritzel von 12 Zähnen gefahren wird, sind es lediglich 9,23 Meter oder 49,8 km/h. Außerdem ist das kleine Ritzelpaket leichter. Was in einem Sport, in dessen Hobbybereich für jedes Gramm weniger am Rad viel, in den Abbau des körpereigenen Fettanteils im Kilobereich wenig investiert wird, ein echtes Argument ist. Aber Physik wird nie der Psyche Placebo seiner Macht berauben.