Spiegel-Online erzählt die Geschichte eines Flüchtlings, der in doppelter Hinsicht auf Sylt angekommen ist. Die Lage auf dem Festland ist eine andere. Da gibt’s Pfefferspray und je Menge „gesunden“ Volksempfindens.
„Salih Shekhan lehnt am weißen Gartenzaun. Er sieht das reetgedeckte Backsteinhaus vor sich, Butterblumen im Gras. Nebenan mäht jemand den Rasen, ein paar Möwen kreisen über ihm am blauen Himmel. Keitum auf Sylt, ein friedlicher Ort. In Salih Shekhans Kopf herrscht Krieg.“ So beginnt ein Bericht auf Spiegel-Online über einen Mann, der vor acht Jahren aus Afghanistan geflüchtet ist und seit 1. September auf Sylt zum Restaurantfachmann ausgebildet wird. Pretty Woman auf friesisch. Handwerklich gibt’s an der Geschichte nichts auszusetzen: Die Autorin arbeitet und formuliert derart nach allen Regeln von Storytelling, dass Journalismus-Papst Wolf Schneider („Qualität kommt von Qual!“) seine Freude daran hätte.
Als Leser mit stärkerem Interesse an Inhalten denn Stilfragen mag sich emotionale Luftigkeit hingegen nicht so recht einstellen. Die Geschichte vom traumatisierten Afghanen, dem sich nach anfänglichen Zögern die Herzen der Reichen und Gelifteten unter den teuersten Strohhütten der Welt zugewandt haben, ist tatsächlich weniger eine Notiz aus dem Offshore-Kosmos der Insel denn eine dankenswerte Erinnerung an deutsche Realitäten.
Einen Teil davon erzählt der Geschäftsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (bamf) für Juli dieses Jahres: Demnach haben in den ersten sieben Monaten des Jahres 10.191 Flüchtlinge aus Afghanistan einen Erstantrag auf Asyl gestellt, davon alleine im Juli 2104. Insgesamt hat das Bundesamt seit 1. Januar mehr als 195.000 Erstanträge registriert – nicht bearbeitet. Damit erreicht das Sylter Modell für Noblesse oblige ganz schnell Exotenstatus. Weder wird es Seeluft für alle geben noch eine Willkommenskultur nach dem Umschiffen „kleinerer Irritationen“ („Lern Deutsch, wir sind hier in Deutschland) fröhliche Urständ feiern. Märchen wie das von Sylt führen wie eine Daily Soap für den Moment des Lesens in eine bessere Welt.
„Du kriegst Pfeffer. Ich schwör’s dir.“
Das mag so lange die Psyche entlasten, bis beispielsweise das am Dienstagnachmittag gedrehte Video den Weichzeichner ausknipst. Es zeigt einen Polizisten vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin, wo es zu Tumulten kommt, als mehrere hundert Flüchtlinge in das Gebäude einzudringen versuchen, um so gegen die langen Wartezeiten zu protestieren. „Du kriegst Pfeffer. Ich schwör’s dir“, sagt da der Polizist zu einem Flüchtling. Dabei zielt er mit einer Pefferspraydose auf das Gesicht des Mannes, deren schiere Größe bereits Angst macht. Diese Sequenz ist nicht etwa der Beweis für den Missbrauch der Mittel staatlicher Exekutive. Vielmehr zeigt sie die Überforderung aller Beteiligten. Da wächst die Distanz Berlin-Sylt von rund 500 Autokilometern auf die zwischen Paralleluniversen an.
Deutlich näher dran sind die Worte und Taten derer, die in vielen Medien aktuell als „Pack“ oder „Pöbel“ bezeichnet werden. Tumbe Glatzen, die Brandsätze werfen, sind lediglich die personifizierte Karikatur eines durch alle Schichten verästelten Volksgeistes, der mit breiter Rückendeckung Sätze wie „Lern Deutsch, wir sind hier in Deutschland“ produziert und daher viel ernster genommen werden muss als es Begriffe für Randgruppen zulassen.
Rollenwechsel für deutsche Versager
Hilfreich könnte die Konfrontation dieser vielen Vertreter eines vermeintlich gesunden Volksempfindens mit dem Zuwanderungsrecht sein, das 2005 in Kraft getreten ist. Die dort definierten Integrationskurse, an denen teilzunehmen Ausländer verpflichtet sind, beinhalten den Abschlusstest „Leben in Deutschland“ zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft. Es ist nicht die Rede davon, dass fremdenfeindliche Deutsche, die von den insgesamt 310 Testfragen überfordert sind, ihren Pass abgeben müssen. Die Hoffnung, dass diese Erfahrung eines Rollenwechsels vom guten Deutschen zum ungebildeteten Kretin ohne Sanktionen den Begriff „Toleranz“ tatsächlich begreifbar macht, ist immer wieder einen Versuch wert.
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